Im zeitgenössischen Denken werden gerne bislang unbeachtete Aspekte der Vergangenheit aufgegriffen. Dabei geht es keineswegs um den vergeblichen Versuch einer Wiedergutmachung, – das ist nicht mehr möglich – sondern darum, so auf die Vergangenheit zu blicken, dass sich Ansätze zur Reflexion und ein ästhetischer Wert in der Gegenwart bieten.
Eine wesentliche Rolle dabei spielt die Übersetzung, denn sie eröffnet bisher unbekannte alte Wege in fremden Kulturen und bereichert somit unsere eigene Geschichte. Aus diesem Grund übersetze ich diesmal Gedichte von Alice Dunbar-Nelson (1875-1935), afro-amerikanische Autorin des frühen zwanzigsten Jahrhunderts.
Sie kam 1875 in New Orleans als Alice Ruth Moore zur Welt und studierte Literatur, Geschichte, Philosophie und Zeichnen an der Straight University, der University of Pennsylvania und der Cornell University, wo sie ihre Abschlussarbeit über den Einfluss von John Milton auf William Wordsworth verfasste. Sie arbeitete als Lehrerin und schrieb Kurzgeschichten, Romane, Gedichte und Theaterstücke. Alice Moore war eine prägende Figur der frühen Jahre der Harlem Renaissance. Sie publizierte in einflussreichen Zeitschriften der Zeit wie The Crisis und war Mitherausgeberin von A. M. E. Review und der progressiven Zeitung Wilmington Advocate. Außerdem engagierte sie sich für ein Recht auf Bildung der afroamerikanischen Bevölkerung und die Frauenrechtsbewegung. Sie nahm den Nachnamen ihres ersten Mannes, Paul Laurence Dunbar, an, der zweite Nachname, Nelson, geht auf ihre spätere Ehe mit Robert J. Nelson zurück.
Ihr Buch Violets and Other Tales (1895) erschien als Alice erst zwanzig Jahre alt war und beinhaltet reflektierte und profunde Gedichte, Erzählungen, Zeichnungen und Essays von subtiler Vorstellungskraft, wie zu sehen am Beispiel von „Impressions“:
THOUGHT
A swift, successive chain of things
That flash, kaleidoscope-like now in, out now.
Now straight, now eddying in wild rings,
No order, neither law, compels their moves.
But endless, constant, always swiftly roves.
[…]
DEATH
A traveler who has always heard
That in this journey he some day must go,
Yes shudders now, when at the fatal word
He starts upon the lonesome, dreary way,
The past, a page of joy and woe,-
the future, none can say.
FAITH
Blind clinging to a stern, stone cross,
Or it may be of frailer make;
Eyes shut, ears closed to earth’s drear dross,
Immovable, serene, the world away
From thoughts- the mind uncaring for another day.[1]
GEDANKE
Eine flüchtige, fortlaufende Reihe von Dingen,
Die aufleuchten wie ein Kaleidoskop, mal an, mal aus.
Mal gerade, mal in wilden Kreisen wirbelnd,
Keiner Ordnung oder Regel folgend.
Aber ohne Ende, stetig, schweifen sie geschwind.
[…]
TOD
Ein Reisender, der immer hörte,
Dass er selbst eines Tages gehen müsse,
Zuckt jetzt zusammen, beim verheerenden Wort,
Macht sich auf den einsamen, tristen Weg,
In der Vergangenheit liegen Freud und Leid,
Was die Zukunft bringt, kann niemand sagen.
GLAUBE
Blindes Klammern an ein hartes, steinernes Kreuz,
Oder sei es fragiler gebaut,
Augen zu, Ohren geschlossen vor der Unordnung der Welt,
Unbeweglich, gelassen, eine Welt entfernt
Von Gedanken – der Geist gleichgültig für einen weiteren Tag.[Übersetzung FM]
Das Gedicht vermittelt eine beherrschte und nüchterne Auffassung des Lebens: der Gedanke ist flüchtig, wild und vielfältig, der Tod steht unmittelbar bevor und der Glaube ist im Prinzip blind. Der scharfe lyrische Blick Dunbar-Nelsons steht im Kontrast zu einem kritischen Ton in Bezug auf die Erinnerungen an die Sklaverei, wie in „The Negro Farmers of the United States of America“:
God washes clean the souls and hearts of you,
His favored ones, whose backs bend o’er the soil,
Which grudging gives to them requite for toil
In sober graces and in vision true.
God places in your hands the pow’r to do
A service sweet. Your gift supreme to foil
The bare-fanged wolves of hunger in the moil
Of Life’s activities. Yet all too few
Your glorious band, clean sprung from Nature’s heart;
The hope of hungry thousands, in whose breast
Dwells fear that you should fail. God placed no dart
Of war within your hands, but pow’r to start
Tears, praise, love, joy, enwoven in a crest
To crown you glorious, brave ones of the soil.[2]
Gott wäscht eure Seelen und Herzen,
Seine Liebsten, die ihre Rücken über die Erde beugen,
Die missgönnend die Mühen vergilt,
Voll bescheidener Anmut und mit wahrer Absicht.
Gott legt in eure Hände die Macht,
Wohltaten zu tun, eine herrliche Kraft,
Um die zähnefletschenden hungrigen Wölfe
Im Durcheinander des Lebens zu durchkreuzen. Und doch zu klein
Ist eure glorreiche Schar, reinen Ursprungs im Herzen der Natur;
Die Hoffnung tausender Hungernder, in deren Brust
Die Angst lebt, ihr könntet versagen. Gott legt kein Kriegsbeil
In eure Hände, sondern die Kraft,
Tränen, Lob, Liebe und Freude auszulösen, zu einem Wappen gewoben,
Euch zu ehren, die Tapferen der Erde.[Übersetzung FM]
Die ergreifenden Worte des Gedichts, die Spannungen zwischen Hass, Mitleid und Gewalt darstellen, erschienen in Speaker and Entertainer, einem von Dunbar-Nelson (1920) herausgegeben Buch, das die beste Prosa und Lyrik afroamerikanischer Autorinnen und Autoren in einem Band vereinen sollte. Das Buch entstand in einer Zeit, in der der kollektive Charaker ihres kulturellen Schaffens definiert wurde, der an ein von Stärke und Schmerz gekennzeichnetes Erbe erinnert. Alice Dunbar-Nelsons Arbeit als Schriftstellerin, Herausgeberin und Aktivistin machten sie zu einer Vorreiterin afroamerikanischer Autorinnen, die sich in ihrem Schreiben mit der Komplexität einer vielfältigen Abstammung und den Folgen für den Identitätsbegriff auseinandersetzten.
[1] Dunbar-Nelson, Alice. Violets and other tales. Boston, Mass.: Monthly Review, 1895. p.63.
[2] Dunbar-Nelson, Alice. The Works of Alice Dunbar-Nelson Volume 2. London: Oxford University Press, 198. p. 82.
Aus dem Spanischen übersetzt von Freyja Melsted. Véase también el texto original aquí.