Diesmal nehme ich einen Kommentar unter der letzten Kolumne zum Anlass, um über einen Gemeinplatz zu schreiben, der immer wieder beim Sprechen bzw. Schreiben über das Übersetzen auftaucht: alternde Übersetzungen. Konkret bezieht sich die Kommentatorin auf ein Zitat von Michi Strausfeld. In dem zitierten Interview ging es um den verstorbenen Übersetzer Curt Meyer-Clason, und auf die Frage hin, wie die langjährige auf Lateinamerika spezialisierte Lektorin Meyer-Clasons Übersetzungen in der Rückschau bewerte, antwortet sie, das Problem an vielen Übersetzungen sei, dass sie alterten. Und zwar im Gegensatz zu „Originalen“.
Die Neuübersetzung von sogenannten Klassikern ist auf dem Buchmarkt keine Seltenheit. Und auch die Rede von alternden Übersetzungen ist nicht neu. Ich möchte nun die Gelegenheit nutzen, um meine Gedanken dazu zu formulieren. Meiner Ansicht nach beruht diese Behauptung nämlich auf einem Missverständnis. Sogar in der Übersetzungstheorie das „Problem“ alternder Übersetzungen auftaucht: So stellt beispielsweise Antoine Berman die wohl bekannteste Neuübersetzungs-Hypothese auf, die von zahlreichen weiteren Theoretiker*innen aufgegriffen und weitergedacht wird. Bei Berman, der hier im Geiste Walter Benjamins gesehen werden kann, gibt es durch jede Neuübersetzung eine weitere Annäherung an ein Ideal, das am Ende sämtliche Problematiken des Ausgangstextes (Zeitversatz zur Übersetzung, archaische Sprache, Balance zwischen Aneignung und Verfremdung etc.) in idealer Weise löst. Gewissermaßen nähern sich hier die Übersetzungen stufenweise an. Lassen wir das zunächst so stehen. Konsens besteht in der Übersetzungstheorie darüber, dass Übersetzungen den jeweiligen sprachlichen Normen und Gegebenheiten einer Zeit entsprechen und somit in der Zeit ihrer Entstehung verwurzelt sind. Es gebe, so Radegundis Stolze und Hans J. Vermeer, allerdings Ausnahmen, die dann „große Übersetzungen“ genannt werden. Auch das lassen wir zunächst so stehen.
Nun. Wer meine Kolumne verfolgt, wird vermutlich schon ahnen, dass ich das anders sehe bzw. aus den Annahmen, die ich für stimmig halte, andere Schlüsse ziehe. Zunächst einmal möchte ich herausstellen, dass alle Texte in einer Zeit, einer Kultur, einer sozialen Schicht und der (sprachlichen wie inhaltlichen) Individualität derjenigen Person verhaftet sind, die den jeweiligen verfasst hat. Kurz: Texte bewegen sich in Kontexten und sind von diesen abhängig. Das gilt für Prosa und Lyrik ebenso wie für Fachtexte sämtlicher Gebiete, von Jura über Wirtschaft bis Medizin. Weil Texte eben nicht im leeren Raum schweben. Weil sie in komplexen Beziehungen zur Realität stehen. Weil sie teilweise Realitäten abbilden, die es zu bestimmten Zeiten noch nicht oder nicht mehr gibt. Weil Sprache lebt und sich entwickelt. Und als sprachliche Ausdrucksformen leben auch Textkonventionen und entwickeln sich. Weil das, was einst skandalös war (eine lesende oder gar schreibende Frau beispielsweise), in anderen Zeiten und an anderen Orten zur Norm gehört. Das ist einfach so. Egal, ob ein Text übersetzt wurde oder nicht.
Folglich bin ich der Ansicht, dass die Annahme, Übersetzungen würden irgendwie in besonderer oder anderer Weise altern, als dies andere Texte tun, fehlgeleitet ist. In der Übersetzungstheorie wurde auch das Hintertürchen „große Übersetzungen“ offen gelassen und hier möchte ich mit meiner Kritik ansetzen.
Auffällig ist, dass Neuübersetzungen in aller Regel nur dann für notwendig befunden werden, wenn sich ein literarisches Werk als kanonisch bzw. „groß“ etabliert hat. Paradebeispiele hierfür sind Don Quijote – 2008 bei Hanser in der Neuübersetzung von Susanne Lange erschienen – dann kommt einem natürlich sofort Schuld und Sühne bzw. Raskolnikow bzw. Verbrechen und Strafe in den Sinn und überhaupt die „großen Russen“, darunter Bulgakows Der Meister und Margarita in der taufrischen Neuübersetzung von Alexandra Berlina vom September 2020 bei Anaconda, um einige relativ willkürliche Beispiele zu nennen.
In der Logik des Buchmarktes ergibt es Sinn, dass diejenigen Texte einer Erneuerung durch Übersetzung bedürfen, die als Klassiker gelten und folglich die Übersetzungskosten voraussichtlich wieder reinholen werden. Wenn dann noch eine relativ bekannte Übersetzerin die Neuübersetzung vorlegt, hat das Editionshaus gute Chancen auf ein positives Presse-Echo und gute Verkaufszahlen – so geschehen bei Don Quijote in der Übersetzung von Susanne Lange. Hier fällt ins Auge, dass bei zahlreichen Reaktionen aus der Presse die „Haltbarkeit“ der Übersetzung direkt angesprochen wird. So auch in einem Interview in der Frankfurter Rundschau, geführt von Ulrich Seidler. Hier lautet die erste Frage an Susanne Lange: „Frau Lange, Ihre „Don Quijote“-Neuübersetzung überbrückt spielend vier Jahrhunderte. Aber wie lange wird diese Brücke halten?“ Und es folgt eine in meinen Augen sehr souveräne Antwort der Übersetzerin:
Oh, das ist nicht an mir, das zu sagen. Ich denke, dass Übersetzungen nicht zwangsläufig veralten. Natürlich verändert sich die Sprache, aber es kommt immer darauf an, ob man an einem Werk sprachlich etwas Neues zu entdecken hat. Dann lohnt sich so eine Neuübersetzung. Je intensiver man sich dabei mit den sprachlichen Aspekten auseinandersetzt, desto umfassender kann so eine Übersetzung sein, und desto länger überdauert sie.
Auf ein Nachhaken des Journalisten zu Haltbarkeit und Anzahl früherer Übersetzungen vertieft Lange ihre Gedanken noch weiter und gibt einen Einblick in die Editions- und Übersetzungsgeschichte dieses „Klassikers“:
[…] Manche sind nur Bearbeitungen von vorherigen Übersetzungen. Oder von französischen Vorlagen. Man kommt vielleicht auf 20 bis 25 mehr oder weniger eigenständige Übersetzungen. Aber einige haben lange gehalten, Tieck seit 1800. Meiner Ansicht nach lag bei den bisherigen Übersetzungen der Akzent nicht so sehr auf der sprachlichen Dimension. Manche konzentrieren sich auf das Satirische, manche mehr auf das Idealistische, und wer weiß, ob in Zukunft jemand versuchen wird, Cervantes zu modernisieren. Alles legitime Ansätze, aber mein Bestreben war, ein sprachlich umfassendes Bild von dem Werk zu geben, damit man auch an die Übersetzung mit den verschiedensten Interpretationsansätzen herangehen kann. Und damit die Figuren nicht leichter auszuloten sind, auch sprachlich nicht leichter auszuloten als im Original. So können sie die Leser längere Zeit beschäftigen, und die Übersetzung muss nicht mit ihrer Zeit vergehen.
Wie immer möchte ich hier keine Aussage zu Übersetzungspraxis (und ‑theorie) der geschätzten Kollegin treffen, sondern mich auf die allgemeine Wahrnehmung von Übersetzungen, Übersetzerinnen (generisches Femininum, wie immer) und Übersetztheiten konzentrieren. Dass der Interviewer direkt mit der Frage nach der Haltbarkeit der Übersetzung einsteigt, ist bezeichnend. Zumal die letzte „große“ Übersetzung des Quijote von Ludwig Tieck stammt, der – wir ahnen es bereits – natürlich nicht in erster Linie Übersetzer war, sondern Dichter. Und damit sind wir direkt am Kern der Problematik angelangt: der „Marke“, unter der Übersetzungen vermarktet werden (das habe ich hier und hier schon einmal ausgeführt). Damit meine ich auch das Faktum, dass einerseits trotz aller editionsgeschichtlicher Anpassungen ein Werk wie Goethes Faust beharrlich unter der Marke „Goethe“ vermarktet wird und andererseits, dass Bücher wie Der Meister und Margarita ebenso beharrlich unter der Marke „Bulgakow“ geführt und beworben werden. Am Beispiel des Faust lässt sich die editionshistorische Entwicklung eines Textes besonders gut zeigen, zumal sogar die Schreibweise des Autorennamens sich im Lauf der Geschichte mehrfach änderte – tatsächlich unterschrieb der „Geheime Rath“ zu seiner Zeit als „Göthe“. Was ich damit sagen will? Selbstverständlich altern alle Texte. Manche besser, manche schlechter. Aber bei „Klassikern“, die per definitionem zu den besser alternden gehören, versteht es die Verlagswelt, diese häppchenweise und mit jeder Sprachreform erneut frisch zu halten. Handelt es sich um Übersetzungen, so wird die Editionsarbeit auf eine Kollegin ausgelagert und die Übersetzerin sorgt mit einer Neuübersetzung dafür, dass die „Marke“ der lange verblichenen Autorinnen noch frisch bleibt.
Ganz nebenbei bemerkt halten sich übrigens viel mehr Bücher (also „Originale“) gar nicht gut und geraten in Vergessenheit. Das fällt aber nicht so sehr auf, da sich deren „Marken“ eben nicht so gut etablieren konnten. Kurz: Texte, die einer Revision über Jahrzehnte und Jahrhunderte standhalten – seien es nun Übersetzungen oder nicht – werden zu „Klassikern“ bzw. „großen Übersetzungen“ (wobei hier auch noch andere Selektionskräfte am Werk sind, aber das sei an dieser Stelle nur erwähnt). Würden wir lernen, Übersetzungen als Übersetzungen und eingedenk ihrer Übersetztheit zu lesen und nicht als getreue Repräsentationen der Ausgangstexte oder gar deren Autorinnen, wäre die Frage danach, ob Übersetzungen denn überhaupt Bestand haben, offiziell überflüssig. Denn wir alle wüssten: Texte altern, aber wenn es sich um gute Literatur handelt, lassen sich durch gute Editionsarbeit die Falten lindern.
Das bedeutet keinesfalls, dass ich gegen Neuübersetzungen wäre – ganz im Gegenteil, ich wäre von Anfang an für verschiedene Alternativübersetzungen, die gleichzeitig nebeneinander stehen dürften. Da aber leider auch der Buchmarkt wirtschaften und haushalten muss, begnüge ich mich mit Übersetzungen aus unterschiedlichen Zeiten und erfreue mich an der Vielfalt, statt ihre Haltbarkeit infrage zu stellen.

Christiane Quandt ist Diplomübersetzerin und Lateinamerikanistin. Sie
übersetzt aus dem Portugiesischen und dem Spanischen und ist
Redaktionsmitglied bei der Zeitschrift für lateinamerikanische Literatur alba.lateinamerika lesen. Unter ihren Übersetzungen sind der Roman „Das Margeritenkloster“ von Lucero Alanís sowie den Gedichtband „Der Hammer“ von Adelaide Ivánova. Sie arbeitet derzeit an der Übersetzung des Erzählbandes „Skalen“ von César Vallejo (erscheint 2020) und an einer Erzählung von Gabriel García Márquez (erscheint 2020). Sie lebt und arbeitet in Berlin.