Die Figur, um die es in dieser Kolumne gehen soll, ist einerseits einer der bekanntesten Übersetzer aus dem Portugiesischen und Spanischen, gleichzeitig aber nicht unumstritten. Besonders die späten Übersetzungen von Curt Meyer-Clason wurden vielfach kritisiert, da sie „zu frei“ seien und dem Ausgangstext „zu fern“. Wieder möchte ich hier aber nicht in die Texte einsteigen und die handwerkliche Arbeit des 2012 verstorbenen Kollegen beurteilen. Mich interessiert vielmehr die Art und Weise, wie der Übersetzer und Vermittler namhafter Boom-Autoren und weniger Autorinnen (spezifische Feminina und Maskulina, später wird’s wieder generisch) aus Lateinamerika inszeniert wurde und sich selbst inszeniert hat. Exemplarisch betrachte ich hierzu drei seiner Nachworte zu von ihm übersetzten Büchern und schaue mir ein paar Artikel, Nachrufe und Interviews an.
Vorab ein kurzer Blick auf seinen Werdegang: Curt Meyer-Clason war nach einer Banklehre als Kaufmann im Baumwollgeschäft tätig, wodurch er Argentinien und Brasilien bereiste. Ab 1940 lebte er in São Paulo, zwei Jahre später wurde er für fünf Jahre wegen angeblicher Spionage für Nazideutschland auf der Ilha Grande interniert. In dieser Zeit „lernte er lesen“, wie er selbst schreibt. Seine so erarbeitete Kenntnis der und Liebe zur Literatur – nicht nur in portugiesischer und spanischer Sprache, auch deutsche, russische, französische Autoren (ja, tatsächlich nur Männer) werden immer wieder genannt – bilden die Basis seines zweiten Lebens als Lektor, Leiter des Goethe-Instituts in Lissabon und schließlich als Übersetzer, Vermittler und Herausgeber vornehmlich lateinamerikanischer und portugiesischer Literatur sowie als Schriftsteller. Wieder haben wir hier also einen Übersetzer, der auch Autor ist, und dessen Betätigungsfeld zu einem verhältnismäßig großen Teil darin bestand, was heute „Scouten“ heißt, nämlich Texte und Schreibende ausfindig zu machen, um sie dann deutschen Verlagen anzubieten. In den 1960er Jahren war das Angebot an Übersetzerinnen (hier wieder das generische Femininum, wie gewohnt) aus dem Portugiesischen recht mager, und so lag es nahe, dass er selbst Hand anlegte. Für den Blick auf das Selbstverständnis und die Selbstinszenierung erscheint es mir nicht unbedeutend, dass Meyer-Clason als freier Lektor begann und erst später Übersetzer wurde.
Steigen wir also ein. In einem Nachruf von Thomas Schmid, wird Meyer-Clason als Übersetzer genannt, seine Tätigkeit als Vermittler wird aber besonders hervorgehoben. Weiter unten werden seine Übersetzungen als „saftig“, d.h. „zu frei“, gerügt:
Curt Meyer-Clason, Übersetzer, das vor allem, aber darüber hinaus auch Kulturvermittler, Kulturpolitiker und nicht zuletzt selbst Schriftsteller. Ihm vor allem ist es zu verdanken, dass die iberoamerikanische Literatur ihren Platz und ihre Leserschaft in Deutschland gefunden hat – keine kleine Leistung, wenn man bedenkt, dass hierzulande gemeinhin wohl ein blässlicher Romantizismus, nicht aber unumwundene Sinnlichkeit geschätzt wird. (…) Nicht zurückhaltend und streng, sondern saftig und zuweilen ausschweifend übersetzte er, er ließ sich – was ihm zuweilen vorgeworfen wurde – mitreißen. Sein Temperament passte zur nervösen, überbordenden Wunderwelt der lateinamerikanischen Literatur.
Dieses Muster findet sich in vielen Artikeln, Nachrufen und Interviews. Auch Michi Strausfeld, die ihn als Vorbild sah, kritisiert seine späte Arbeit, wobei sie im gleichen Interview betont, er habe dennoch stets den richtigen Ton getroffen:
Das Problem von vielen Übersetzungen ist, dass sie altern. Während die Originale nicht altern, altern viele Übersetzungen. Das gilt sicherlich für einige der Übersetzungen von Curt Meyer-Clason. Später hat er – das darf man vielleicht sagen – ein bisschen sehr schnell übersetzt, weil sein Enthusiasmus immer größer war vielleicht als seine Geduld. Da muss vieles neu übersetzt werden, weil es den heutigen Ansprüchen nicht mehr genügt.
An anderer Stelle wird ihm sogar vorgeworfen, seine Übersetzungen seien noch „blumiger“ als die Ausgangstexte:
Dass Meyer-Clason dabei nicht immer wie ein eineiiger „Zwillingsbruder des Autors“ vorgegangen ist, sondern durchaus frei zu übertragen verstand – und bisweilen wohl auch blumiger als im Original –, haben Kritiker oft gerügt. An der großen, teils euphorischen Bewunderung der von ihm übersetzten Autoren hat dies nichts geändert.
Hier ist wieder einmal bemerkenswert, dass die Übersetztheit mit all ihren vermeintlichen Mängeln, sofort hinter der Rezeption der Autorenmarke (spezifisches Maskulinum) – in Übersetzung, aber das fällt hier unter den Tisch – verschwindet. Einerseits greift der bekannte Mechanismus, dass eine Übersetzung nur dann erwähnt wird, wenn sie (vermeintlich) mangelhaft ist, andererseits wird der Übersetzer eher als Vermittler sichtbar, der seine Euphorie und Bewunderung für fremde Autoren (und wenige Autorinnen) für uns lesbar macht. Soweit wenig überraschend. Wie aber hat sich Meyer-Clason selbst in Szene gesetzt? Er selbst wollte „Zwillingsbruder des Autors“ sein, so sagte er in einem Gespräch. Ob sich das auch in seinen Nachworten spiegelt?
Auf Anhieb habe ich in meinem Regal fünf Bücher gefunden, die Curt Meyer-Clason aus dem brasilianischen Portugiesisch übersetzt hat, drei davon mit einem Nachwort des Übersetzers: der Erzählband Das dritte Ufer des Flusses (dtv, 1975) von João Guimarães Rosa, der experimentelle Roman Null (Suhrkamp, 1982) von Ignácio de Loyola Brandão und der Erzählband Die Nachahmung der Rose (Suhrkamp, 1985) von Clarice Lispector. In Brasilien, Brasilien (Suhrkamp, 1991) von João Ubaldo Ribeiro und Der Apfel im Dunkeln (Suhrkamp, 1998, erstmals 1964 bei Claassen erschienen) von Clarice Lispector hat sich der Übersetzer nicht durch ein Nachwort sichtbar gemacht, zumindest nicht in meinen Ausgaben.
Im Nachwort zu Das dritte Ufer des Flusses von 1975 steht das Übersetzen tatsächlich im Mittelpunkt. Es trägt den Titel „Über das Unübersetzbare“ und geht auf spezifische Übersetzungsprobleme bei Guimarães Rosa ein, die einerseits auf dessen von Neologismen durchzogene Sprache und andererseits auf die inhärente Fremdheit der literarischen Landschaften zurückgeführt werden. Im folgenden Absatz beschreibt der Übersetzer sehr eindrücklich die eigene Rolle in dieser Konstellation:
Damit stehen wir mitten in der Problematik seiner Sprache und meiner Aufgabe, diese Sprache in meinen Sprachraum zu verpflanzen. Denn Rosa scheint trotz aller Gegenindikationen auf die Möglichkeit zu vertrauen, der Wirklichkeit mit dem Wort Herr zu werden, aus Mensch und Sprache eins zu machen. Und ich, sein Übersetzer, bereit, das Unmögliche anzustreben, um das Mögliche zu erreichen, vertrauen auf mein utopisches Tun, Rosas Sprache mit meiner Sprache Herr zu werden.
Das Grundverständnis vom Übersetzen, das hier deutlich wird, erscheint mir – besonders für die Zeit – sehr reflektiert. Es wird differenziert zwischen der eigenen Sprache und der des Autors und der Übersetzer sieht sich herausgefordert, Lösungen für kaum lösbare Probleme zu finden. Wobei natürlich der Begriff „verpflanzen“ auf ein treuebasiertes Verständnis vom Übersetzen deutet. Der Rest des Nachwortes geht auf spezifische Probleme ein und stellt den Übersetzungsprozess nebst Korrespondenz mit dem Autor in erhellender Weise dar. Es folgt ein kurzes Glossar. Dieses Nachwort ist sehr gelungen, was die Selbstdarstellung von Übersetzerinnen im Kontext ihrer Übersetzungen betrifft. Gehen wir aber weiter. Ignácio de Loyola Brandãos experimenteller Text Null erschien 1982 in deutscher Übersetzung. Und hier sieht das Nachwort schon ganz anders aus. Die ersten fünf Seiten gehen auf die Editionsgeschichte des Buches in Brasilien, politische Gemengelagen sowie dessen literarischen Einflüsse ein. Auch hier folgt ein Glossar. Erst ganz am Ende kommt die Übersetzung zur Sprache:
Ein Wort zur Übersetzung: Sie sucht den unmittelbaren, schmucklosen Ton des Buches, Großstadtjargon, Kraftausdrücke, Vulgarität ins Deutsche zu retten. Die im Original an der Schreibweise erkennbare Negersprache [sic], die sich teils aus Atavismus, teils aus Analphabetentum erklärt und sich im brasilianischen Alltag durch Aussprache und gutturalen Singsang manifestiert, läßt sich nicht nachahmen, schon deshalb nicht, weil wir keine schwarze Bevölkerung haben. Auf Zuhilfenahme von Dialekten habe ich verzichtet. Eigentliche sprachliche Erfindungen in Null sind selten: einige Neuschöpfungen des Autors wie das aus Lateinern und Indios gebildete Latindio-Amerika; die Sprachsymbiose aus Portugiesisch und Spanisch, das Portuganisch; Brandãos modisches Kürzel für Kommunisten: der (die) Comun(s). Ein Glossar bietet sich dem Leser als Verständnishilfe an.
Hier fällt auf, dass Meyer-Clason etwas in Deutsche „retten“ möchte, womit er sich eindeutig innerhalb des Treue-Paradigmas positioniert, das die Übersetzung in den Dienst des „Originals“ bzw. dessen Autorin stellt (dazu habe ich hier schon einmal etwas geschrieben). Der Hauptanteil des Nachwortes wird darauf verwendet, über literarische und (literatur)politische Aspekte zu schreiben, was zugegebenermaßen hier durchaus angebracht ist, zumal Zero in Brasilien nach Erscheinen verboten wurde. Dem Übersetzen ist nur der zitierte letzte Absatz gewidmet.
Im dritten Nachwort des Übersetzers – in diesem Fall auch Herausgeber des Erzählbandes – fehlt der Bezug zum Übersetzen ganz. Meyer-Clason stellt sich nicht als Spracharbeiter vor, sondern als Experte für Clarice Lispector und ihre Literatur, wobei seine Lesart zuweilen etwas archaisch wirkt:
Clarice Lispector ist lange mißverstanden, unverstanden geblieben. Schon ihr erstes Buch fand der Kritiker Álvaro Lins kompliziert. Sie fand sich damit ab: „Ich arbeite auf anderer, innerer Ebene. Ich verstehe und kann nur telepathisch verstanden werden.“ Obwohl sie gerne reiste und an literarischen Kongressen teilnahm, sah sie sich außerstande, ihr Werk zu erklären, und hörte verwundert strukturalistischen Interpretationen ihrer Bücher zu. Deutungen waren nicht ihre Sache.
Die Tatsache, dass die Texte übersetzt wurden, kommt nur implizit vor. Umso bemerkenswerter, zumal beim Nachwort zu Guimarães Rosa die Übersetzung im Vordergrund stand und sie bei Brandão immerhin noch erwähnt wurde. Ob dies nun chronologisch zu begründen ist, mit Meyer-Clasons (vermeintlichen oder tatsächlichen) Entwicklung zum Literaturexperten oder mit den Texten und ihren spezifischen Übersetzungsherausforderungen, bleibt an dieser Stelle Spekulation.
Ein Eindruck jedenfalls verfestigt sich: Wieder einmal steht allzu häufig nicht das Übersetzen im Mittelpunkt, sondern die Vermittlungstätigkeit der Übersetzerinnen. Und wenn es doch ums Übersetzen geht, dann um vermeintlich fehlerhaftes. Sogar dann, wenn Übersetzerinnen selbst die Möglichkeit nutzen, Nachworte zu ihren Übersetzungen zu verfassen, stehen oft keine primär übersetzerischen Fragen im Zentrum. Ob das so bleiben sollte? Ich denke nicht.

Christiane Quandt ist Diplomübersetzerin und Lateinamerikanistin. Sie
übersetzt aus dem Portugiesischen und dem Spanischen und ist
Redaktionsmitglied bei der Zeitschrift für lateinamerikanische Literatur alba.lateinamerika lesen. Unter ihren Übersetzungen sind der Roman „Das Margeritenkloster“ von Lucero Alanís sowie den Gedichtband „Der Hammer“ von Adelaide Ivánova. Sie arbeitet derzeit an der Übersetzung des Erzählbandes „Skalen“ von César Vallejo (erscheint 2020) und an einer Erzählung von Gabriel García Márquez (erscheint 2020). Sie lebt und arbeitet in Berlin.