Über Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit von Übersetzerinnen (wie immer, generisches Femininum) habe ich in dieser Kolumne schon einiges geschrieben – bisher tendenziell eher abstrakt als konkret, eher außerhalb als innerhalb der übersetzten Bücher. Diesmal möchte ich über ein in meinen Augen gelungenes Beispiel anthropophagischer Übersetzungspraxis berichten (wer möchte, kann hier nachlesen, was es mit dem Begriff auf sich hat).
Die einzige Lesung, die ich in den letzten Monaten besucht habe, war die Buchvorstellung von Der Uterus ist groß wie eine Faust, organisiert von der Zeitschrift alba.lateinamerika lesen. Sowohl die Autorin des brasilianischen Ausgangsbuchs O útero é do tamanho de um punho als auch die Übersetzerin Odile Kennel, selbst Dichterin und Romanautorin, waren im Garten eines Berliner Literaturhauses und sprachen über Literatur, über Sprache allgemein, über poetische Sprache und übers Übersetzen. Angélica Freitas ist in diesem Jahr im Rahmen des Künstlerprogramms des DAAD in Berlin und spricht selbst etwas Deutsch, was bei der Lesung sehr hilfreich war. Beim Übersetzen kann es zwiespältig sein, wenn die Autorin die Zielsprache versteht – Kolleginnen werden wissen, warum. In diesem Fall scheint Angélicas Deutschkenntnis aber keinerlei Hindernis für eine in meinen Augen mehr als gelungene Übersetzung gewesen zu sein.
Alle, die diese Kolumne schon eine Weile lesen, wissen, dass in meinen Augen eine neue Lese- und Vermarktungspraxis übersetzter Texte dringend vonnöten wäre. Die marktübliche Strategie, Übersetztes auch in der Zielsprache ausschließlich unter der Marke der Ausgangstext-Autorin zu vertreiben, verkennt und verschleiert die Übersetztheit der Texte und macht damit sowohl den Übersetzungsprozess als auch die daran Beteiligten – vor allem die Übersetzerinnen – unsichtbar. Ganz selten mal kommen Übersetzerinnen auf das Buchcover, noch seltener wird bei Lesungen, in Rezensionen, bei Podiumsdiskussionen, literarischen Quartetten, auf Buchmessen, in Ankündigungs- oder Klappentexten ihre Tätigkeit auch nur erwähnt, geschweige denn in produktiver Weise kommentiert. Und wenn doch, so meistens, um die Übersetzungsarbeit zu kritisieren. Auch das war schon Thema dieser Kolumne. Zurück also zu Odile Kennels Übersetzung von Angélica Freitas‘ Gedichtband.
Wer sowohl Portugiesisch als auch Deutsch liest und beide Bücher vor sich hat, wird recht schnell Unterschiede feststellen. Zunächst ist das nicht ungewöhnlich: Keine der drei portugiesischsprachigen Ausgaben sieht so aus wie die deutsche Übersetzung, Coverbild, Satz und Gestaltung sind – wie bei praktisch allen übersetzten Büchern – unterschiedlich. Auch fällt auf, dass Odile Kennel namentlich auf dem Cover genannt wird – unten zentriert über dem Verlag steht: „Übersetzung aus dem Portugiesischen (Brasilien): Odile Kennel“



Dafür erst einmal ein dickes Lob an den Elif Verlag! Schlägt man nun das Buch auf, so fällt auf dem Schmutztitel ein Sternchen mit entsprechender Fußnote auf: „*mit Fußnoten der Übersetzerin“. Auf den ersten Blick würde die durchschnittliche Leserin übersetzter Poesie vielleicht an erklärende Fußnoten der Übersetzerin denken, die ja zuweilen durchaus notwendig sind. Und teilweise stimmt diese Annahme auch – aber eben nur teilweise. Odile Kennel hat sich hier nicht auf die „dienende“ Rolle der Übersetzerin als „Brückenbauerin“ beschränkt, die den Zugang zu einem „fremden“ Text ermöglicht, sie hat sich vielmehr als Co-Autorin des deutschen Textes in Szene gesetzt. Und das auf überaus gelungene Art und Weise.
So lautet die erste Fußnote zu dem Gedicht „Eine saubere Frau“, die zunächst vermeintlich nur einen unvermittelt auftauchenden spanischen Begriff erklärt:
Üblicherweise werden fremdsprachige Passagen oder Wörter in Gedichten in der Zielsprache übernommen. Es sei denn, man lässt sich etwas anderes einfallen. In diesem Fall fiel mir, der Übersetzerin – ganz im Sinne der Dichterin, die in diesem Band mehrfach auf dieses Werkzeug zurückgreift – die Zuhilfenahme von Google ein. Im Folgenden lasse ich also spanische Passagen – ganz im Sinne der Übersetzungstheorie – im deutschen Text stehen und trage sie in der Fußnote mit freundlicher Hilfe der Google-Übersetzerin ins Deutsche hinüber. Gelegentlich trage ich meine eigene Version bei. In diesem Fall bin ich mit meiner digitalen Kollegin einverstanden: gelangweilte Mexikaner.
Bereits in der ersten Notiz der Übersetzerin wird deutlich, dass Odile Kennel nicht nur genau weiß, welche Art des Kommentars von Übersetzerinnen erwartet wird, sondern dass sie diese auch ironisch zu untergraben versteht – ganz im Sinne der Übersetzungstheorie. Die Übersetzerin macht sich hier als Instanz sichtbar, die einen nicht unerheblichen, gar unverzichtbaren Beitrag zum vorliegenden Buch geleistet hat. Und sie scheut sich dabei nicht, „ich“ zu schreiben.
Auf Seite 68 geschieht noch etwas, das mir noch nie zuvor begegnet ist: Die Übersetzerin tritt im übersetzten Buch in einen expliziten Dialog mit der Autorin und leitet eine Alternativübersetzung des titelgebenden Gedichts „Der Uterus ist groß wie eine Faust“, hier als „Die Gebärmutter ist groß wie eine Faust“, wie folgt ein:
Liebe Angélica, ich weiß, würdest Du in der deutschen Sprache schreiben, Du ließest Dir keinen Gebärmutterwitz entgehen…
Und es folgt eine ganz wunderbar erfrischende Transkreation bzw. Fortschreibung von Freitas‘ Gedicht in den Worten und mit dem geballten Witz der Übersetzerin. Mit einem herkömmlichen, äquivalenzbasierten Verständnis vom Übersetzen hat das nicht viel zu tun, wohl aber mit dem anthropophagischen: Die kreative Aneignung, Verstoffwechselung und „Ausscheidung“ aus den entsprechenden Übersetzungstheorien ist hier mustergültig gelungen.
Um es besser greifbar zu machen, zitiere ich ein paar Verse, zunächst aus der äquivalenzbasierten Version „Der Uterus ist groß wie eine Faust“:
der Uterus ist groß wie eine Faust
in einen Uterus passt ein ganzer Lehrstuhl
alle Ärzte passten mal in einen Uterus
das ist nicht wenig
eine ganze Person passte mal in einen Uterus
passt jedoch nicht in eine Faust
will sagen, sie passt
sofern die Faust zur Hand geöffnet ist
was nichts zu tun hat mit Genus
Degenerierung oder Generosität
Und aus der anthropophagischen Version: „Die Gebärmutter ist groß wie eine Faust“
in eine Gebärmutter passen Kirchenväter
passt ein ganzer Gottvater, passt
eine Fata Morgana
was nicht wenig ist
eine Mutter passte mal in eine Gebärmutter
die in eine Mutter passte
aber in keine Faust
Faust passte in eine Gebärmutter
Fausts Schlaftropfen passten in eine Mutter
Passt auch das Gartenhäuschen der Mutter in die Gebärmutter?
Diese herrliche Spielerei zieht sich über mehrere Seiten. Die Text- bzw. Übersetzungsanalyse hebe ich mir für einen anderen Ort auf. Stattdessen wage ich den Blick auf die weiteren Fußnoten. Wie schon mit den ersten Sternchen angekündigt, tritt die Übersetzerin bei spanischen Wörtern oder Versen mit der „Google-Übersetzerin“ in Dialog. In dem mehrteiligen Gedicht „Argentinien“ ergibt sich zusätzlich eine übersetzerische Gender-Fragestellung:
X.
argentinische Dichterin:
Zerlarayán De Nápoli Thenon
Bianco Medrano und Freitas
Freitas, no sos 1 poeta argentina [1]
bueno, soy 1 poeta brasileña [2]
Eine ausführliche Analyse dieser ganz großartigen übersetzerischen und gendertheoretischen Spielerei verschiebe ich ebenfalls an eine andere Stelle bzw. überlasse sie neugierigen Translations- und Genderforscherinnen. Ich begnüge mich hier mit diesem seltenen Beispiel einer im Sinne der Anthropophagie und der Sichtbarmachung des Übersetzungsprozesses und der Übersetzerin absolut gelungenen Übersetzung. Es findet sich derzeit nur eine Rezension von Eric Giebel im Netz, hoffentlich folgen noch viele weitere. Ich wäre sehr neugierig darauf, wie etablierte Kritikerinnen und Medien auf diese Art der kreativen Übersetzung reagieren. Und auch darauf, ob Odile Kennels Tätigkeit als Autorin dabei eine größere Rolle spielte als die der Übersetzerin. Denn die Vermutung liegt nahe, dass auch die übersetzerische Autorschaft eher einer Übersetzerin zugestanden wird, die auch Autorin ist, als einer, die „nur“ übersetzt.
Dem Elif-Verlag möchte ich zuletzt noch einmal für seinen Mut danken – ein kleiner Anfang ist gemacht. Hoffen wir, dass viele weitere Verlage, Übersetzerinnen und Autorinnen nachziehen. Die Menschenfresserei – in der Übersetzung – ist nämlich ein riesiger Spaß.
[1] sagt die Google-Übersetzerin: Freitas, du bist kein argentinischer Dichter. Ich sage: Freitas, du bist kein·e argentinisch·e Dichter·in.
[2] antwortet Angélica, wiederum durch die Google-Übersetzerin: Ok, ich bin 1 brasilianischer Dichter. Für Angélica kann ich nicht antworten, auch nicht durch die Google-Übersetzerin.

Christiane Quandt ist Diplomübersetzerin und Lateinamerikanistin. Sie
übersetzt aus dem Portugiesischen und dem Spanischen und ist
Redaktionsmitglied bei der Zeitschrift für lateinamerikanische Literatur alba.lateinamerika lesen. Unter ihren Übersetzungen sind der Roman „Das Margeritenkloster“ von Lucero Alanís sowie den Gedichtband „Der Hammer“ von Adelaide Ivánova. Sie arbeitet derzeit an der Übersetzung des Erzählbandes „Skalen“ von César Vallejo (erscheint 2020) und an einer Erzählung von Gabriel García Márquez (erscheint 2020). Sie lebt und arbeitet in Berlin.