Die Corona-Pandemie hat auch im Konzertleben der Republik einiges durcheinandergewirbelt. Festivals wurden entweder ganz abgesagt oder fanden im kleinsten erdenklichen Rahmen statt. Und auch am Ende dieses außergewöhnlichen Sommers ist keine Veränderung in Sicht: Während das Wirtschaftsleben allerorten zu einer wenn auch veränderten Normalität zurückkehrt, sind Musikerinnen und Musiker nach wie vor in Kurzarbeit (im besten Fall) bzw. arbeitslos (im schlimmsten).
Doch mit Beginn der neuen Spielzeit öffnen nun auch wieder zaghaft, mit vielen Einschränkungen, die Konzertsäle der Republik. Und siehe da: die Programme, die sie anbieten, sind aufregende Erkundungsreisen in oftmals unerforschte musikalische Zonen. Die Notwendigkeit, auch auf der Bühne Abstand zu halten, schickte Dirigentinnen und Kuratoren auf der ganzen Welt auf die Suche nach neuen, kleinen, eben: pandemietauglichen Formen. Die Programme, mit denen sie nun zurückkehren, sind oft weder so neu noch so klein, wie man vermuten würde. Wenn es so weitergeht, wird diese Pandemie nicht nur als die Hochzeit der Kammermusik in Erinnerung bleiben, sondern auch als die große Zeit des Remix, die Zeit der Neugier auf andere Perspektiven.
Das Repertoire, das mit dieser Entwicklung plötzlich auf die Spielpläne der größten Bühnen gespült wird, ist allerdings oft gar nicht neu. Im Gegenteil: Wenn heute ein Sinfonieorchester seine Besetzung den epidemiologischen Beschränkungen entsprechend reduzieren muss, dann entspricht das aus historischer Perspektive recht genau den Beschränkungen, denen das Musizieren an vielen Adelshäusern Europas vor 200 Jahren unterworfen war.
In beiden Fällen wäre es undenkbar (gewesen), ein volles Sinfonieorchester aufzubieten, damals freilich aus Platz- oder finanziellen Gründen. An den großen musikalischen Entwicklungen der Zeit wollte man gleichwohl partizipieren, und wem das nötige Kleingeld für den Unterhalt eines kompletten Hoforchesters fehlte, der ließ die neuesten Sinfonien und Opern eben für die zur Verfügung stehenden Ensembles arrangieren.
Das Ergebnis war ein schier unendliches Remix-Repertoire für eine Besetzungsform, der die Corona-Pandemie nun eine Renaissance bescheren könnte: der sogenannten „Harmoniemusik“. In der Zeit um 1800 fungierte dieser Begriff für eine Vielzahl unterschiedlicher Bläserbesetzungen (üblicherweise ein Oktett mit je zwei Oboen, Klarinetten, Hörnern und Fagotten) und repräsentierte einen wesentlichen Teil des musikalischen Lebens in der Übergangszeit von der adlig geprägten Hofmusikkultur zur Zeit der bürgerlichen Konzerthäuser des 19. Jahrhunderts.
Während jener Übergangsphase schrieben die Komponisten (beginnend mit Beethoven) Werke für Orchester, die es in der Fläche überhaupt noch nicht gab und die an den Adelshäusern des politisch zersplitterten Europa auch nicht finanzierbar gewesen wären. Eine bürgerliche Konzertkultur, die Sinfonieorchester öffentlich, d.h. durch den Verkauf von Abonnements und Eintrittskarten finanzierte, war aber erst im Entstehen begriffen. Abgesehen von kuriosen Happenings rezipierten also weite Teile des musikalischen Publikums die neuesten musikalischen Großwerke durch Bearbeitungen und Arrangements.
Die „Harmoniemusik“ blieb ein Kuriosum, weil ihr die Ausweitung der bürgerlichen Zuhörerschaft und damit die Ausbreitung öffentlicher Konzerthäuser schon Anfang des 19. Jahrhunderts ein Ende bereitete. Seitdem fristete sie ein Schattendasein in der kleinen Nische einiger weniger Holzblasenthusiasten, denen es Spaß machte, klassische Sinfonien in kleiner Besetzung zu musizieren.
Doch im Jahr 2020 könnte die Stunde der „Harmoniemusik“ erneut schlagen. Für mutige Orchester, die lieber in kleiner Besetzung auftreten als gar nicht, könnte sie gar eine echte Chance sein. Ein gutes Beispiel dafür gab im August das European Union Youth Orchestra, das zum Abschluss des Berliner Festivals „Young Euro Classic“ im Konzerthaus Berlin auftrat. Neben klassischen und modernen Kammermusikwerken bot das Orchester zum Abschluss des Konzerts die Aufführung der ersten Sinfonie Ludwig van Beethovens in erweiterter „Harmoniemusik“-Besetzung:
Ausgegraben hatten die Veranstalter den „Harmoniemusik“-Remix in den Archiven der Holzbläser-Literatur. Der Bearbeiter Georg Schmitt, ein außerhalb der Blasmusik-Szene weitgehend unbekannter Kapellmeister am Hof des Fürsten zu Hohenlohe-Öhringen, produzierte während seiner Wirkungszeit angeblich über Hundert solcher Arrangements, die aber zumeist in Vergessenheit geraten sind. Von seiner Bearbeitung der ersten Beethoven-Sinfonie existiert nur eine einzige CD-Einspielung.
Auch die Verantwortlichen beim European Union Youth Orchestra hätten diese Besetzung wohl nicht gewählt, hätten es die Pandemie-Auflagen nicht erzwungen. Doch in diesem Fall kann man mit Fug und Recht davon sprechen, dass sie zu ihrem (und unserem) Glück gezwungen wurden. Denn die Aufführung der elf Musikerinnen und Musiker war nicht nur interpretatorisch und intonatorisch perfekt – bietet sie nicht auch einen ganz neuen Blick auf Beethovens ersten großen sinfonischen Wurf? Wird dieses Konzert den Zuhörern im Saal, im Live-Stream oder hinterher im Radio nicht eindrücklicher in Erinnerung bleiben, als es die eindrucksvollste Interpretation der Orchesterfassung je vermocht hätte?
Im besten Fall wird der Festivalsommer 2020 keineswegs „ins Wasser gefallen“ sein, wie man zunächst wohl vermuten konnte. Oder: Er wird für uns ins Wasser gestiegen sein, um dort schwimmen zu lernen. Er wird nach neuen Schätzen getaucht sein und uns ein neues Hören gelehrt haben. Der Anfang ist schon gemacht. Und wenn der Remix zum Ton der Stunde werden sollte, dann können wir uns in musikalischer Hinsicht auf diese Saison freuen wie auf keine zu unser aller Lebzeiten.
Literatur
Bernhard Friedrich Höfele: Materialien und Studien zur Geschichte der Harmoniemusik. Bonn 1982

Felix Pütter ist Softwareentwickler für das Notensatzprogramm FORTE. Nebenbei schreibt er für TraLaLit und ist begeisterter Musiker. Für verschiedene Ensembles hat er auch schon selbst Musik arrangiert – zum Beispiel Opernarien für Chor, Volkslieder für Streichensembles und einen Heavy-Metal-Song für Sinfonieorchester.