Richter und Rasmussen remixen Vivaldi

Anto­nio Vivald­is Konz­ertzyk­lus „Die vier Jahreszeit­en“, kom­poniert im Jahr 1725, gehört zu den meist­ge­spiel­ten Werken des Klas­sik-Main­streams über­haupt; wer möchte, kann dieses Werk an jedem Woch­enende irgend­wo hören, ohne beson­ders weit fahren zu müssen. Im Novem­ber ver­gan­genen Jahres gelang es dem Elbphil­har­monie Orch­ester Ham­burg den­noch, mit ein­er Auf­führung dieses Werkes eini­gen Medi­en­rum­mel zu erzeugen.

Die bre­ite über­re­gionale Res­o­nanz ver­dank­ten die Musik­erin­nen und Musik­er unter der Leitung ihres neuen Chefdiri­gen­ten Alan Gilbert allerd­ings weniger ihrer sub­tilen kün­st­lerischen Inter­pre­ta­tion als vielmehr dem Tim­ing der von zahlre­ichen Wer­beagen­turen geplanten Aktion. 

„For sea­sons“ statt „Four sea­sons“ war das Pro­jekt betitelt, was nicht nur als Hom­mage des Orch­esters an die Fri­days-for-future-Demos zu ver­ste­hen war, son­dern auch gle­ich den emphatisch-poli­tis­chen Anspruch der Aktion fes­thielt: Gilbert und Co. spiel­ten für die Jahreszeit­en, während – so durfte man schlussfol­gern – die Welt ring­sum an ihrer Abschaf­fung arbeitet.

Diese Zer­störung der Umwelt und des Kli­mas war es auch, die „For Sea­sons“ abbildete: Die beteiligten „Sounda­gen­turen“ Kling Klang Klong und Marken­film Space ver­ban­den Vivald­is Par­ti­tur und his­torische Kli­ma­dat­en aus den ver­gan­genen knapp 300 Jahren, um die irre­versiblen, men­schengemacht­en Verän­derun­gen jen­er Zeit hör­bar zu machen.

Auf der eigens ein­gerichteten Web­site wird das Pro­jekt so beschrieben:

Inner­halb von sechs Monat­en ent­stand ein tech­nol­o­gis­ches Sys­tem, welch­es die Noten der Orig­i­nal-Par­ti­tur daten­basiert bee­in­flusst hat und den Kli­mawan­del damit hör­bar macht: So ver­schieben sich har­monis­che Pas­sagen in Dishar­monien, die Gren­zen zwis­chen Früh­ling und Som­mer ver­schwim­men, instru­men­tale Vogel­stim­men ver­s­tum­men – ins­ge­samt wirkt es für die Zuhör­er zunehmend schief und schräg. Das neue Abbild der “Vier Jahreszeit­en”, die “For Sea­sons”, ist unbe­quem, fällt aus der ursprünglichen musikalis­chen Pro­por­tion und Balance. 

Mit dieser ehrlichen Selb­stein­schätzung ist der Anspruch, aber auch die unüber­schre­it­bare Gren­ze dieses Pro­jek­tes beze­ich­net. Wer sich die Aufze­ich­nung des Elbphil­har­monie-Konz­ertes auf Youtube ansieht oder ‑hört, der wird in musikalis­ch­er Hin­sicht auf ganz­er Lin­ie ent­täuscht wer­den. Denn was die am Pro­jekt beteiligten Pro­gram­mier­er, Arrangeure und Wer­beagen­turen da pro­duziert haben, ist in weit­en Streck­en unmusikalis­ch­er Krach und hat mit Vivald­is kun­stvoll gestal­teter Musik nur noch lose Fet­zen gemeinsam.

Vielle­icht wür­den die Pro­jek­t­beteiligten dieser Ein­schätzung sog­ar zus­tim­men, schließlich geht es, wie oben zitiert, darum, „schief und schräg“ zu klin­gen, Vival­di gewis­ser­maßen zu zer­stören, um die dahin­ter ste­hende poli­tis­che Botschaft zu verdeutlichen.

Man kann das inter­es­sant find­en („span­nend“ wäre wohl der medi­en­agen­tur­taugliche Aus­druck), fraglich ist aber doch, warum hier offen­bar noch nicht ein­mal der Ver­such unter­nom­men wurde, ein an ästhetis­chen Kri­te­rien mess­bares Werk zu schaf­fen. Wenn poli­tisch oppor­tune, öffentlichkeitswirk­same, anti-ästhetis­che Aktio­nen wie diese die Zukun­ft des Kul­turbe­triebs sind, dann ste­hen uns wahrschein­lich dröge, ja: drit­tk­las­sige Zeit­en bevor.

Das müsste nicht so sein, denn ger­ade anhand der „Vier Jahreszeit­en“ haben andere, musikalisch bewan­dert­ere, Kom­pon­is­ten in den let­zten Jahren bewiesen, dass eine frucht­bare und ästhetisch aufrüt­tel­nde Auseinan­der­set­zung mit Vival­di möglich ist.

Denn auch wenn in „For sea­sons“ kein­er­lei Auseinan­der­set­zung mit den dif­feren­zierten Aus­drucks­for­men der musikalis­chen Mod­erne erkennbar ist, wird man ja nicht behaupten kön­nen, das Rad der Zeit habe sich seit dem 18. Jahrhun­dert nicht auch ger­ade in musikalis­ch­er Hin­sicht weit­erge­dreht. Man müsste gar nicht sta­tis­tis­che Kli­ma­analy­sen auf­fahren, um Vival­di zu „mod­ernisieren“, wie es in solchen Fällen hin und wieder genan­nt wird, es würde schon reichen, ein mod­ernes Ver­ständ­nis von musikalis­ch­er Ästhetik mitzubringen.

Im Jahr 2012 legte der deutsch-britis­che Kom­pon­ist Max Richter in Zusam­me­nar­beit mit Daniel Hope und dem Konz­erthaus Kam­merorch­ester Berlin auf dem Album „Recom­posed by Max Richter: Vival­di – The Four Sea­sons“ seine Neuin­ter­pre­ta­tion der „Vier Jahreszeit­en“ vor.

Richter ent­fer­nt sich in seinem Arrange­ment, das eigentlich kom­plett unplugged auf­führbar ist, aber auf der Urauf­führungs-CD mit elek­tro­n­is­chen Ele­menten spielt, teil­weise extrem weit von Vivald­is Par­ti­tur, ohne aber den Geist der 4 mal 3 Sätze je zu verändern. 

Die kle­in­ste musikalis­che Ein­heit, bei der sich Richter und Vival­di begeg­nen, ist das Pat­tern: Sowohl Vival­di als auch Richter bauen ihre Musik aus winzi­gen, sich stets wieder­holen­den Mustern auf, die immer­fort wieder­holt, ver­schoben und vari­iert wer­den. Die Tech­niken, die dabei jew­eils zur Anwen­dung kom­men (bei Vival­di beispiel­sweise die Sequenz, bei Richter der Loop), sind natür­lich grundverschieden. 

Nichts­destoweniger grundiert Richter mit sein­er an mod­er­nen Remix­es geschul­ten Sam­pling-Tech­nik Vival­di neu und lässt auch Men­schen, die mit barock­er Klangäs­thetik vielle­icht nicht so ver­traut sind, die „Vier Jahreszeit­en“ ganz neu hören.

Deut­lich näher an Vivald­is Noten­text und für meine Begriffe noch überzeu­gen­der hat sich der dänis­che Kom­pon­iste Karl Aage Ras­mussen mit den „Vier Jahreszeit­en“ auseinan­derge­set­zt. Während seines Aufen­thalts als „Com­pos­er in Res­i­dence“ beim Barock­ensem­ble Con­cer­to Copen­hagen im Jahr 2018 kom­ponierte er eben­falls eine Neu­fas­sung der „Vier Jahreszeit­en“, die 2019 auch auf CD erschien.

Ras­mussen nähert sich Vival­di gewis­ser­maßen von der anderen Seite. Er nimmt sich als Kom­pon­ist mit eigen­em Stil noch viel weit­er zurück als Richter (dessen repet­i­tiv­er, manch­mal auch ein­schläfer­n­der Stil Vival­di in manch­er Hin­sicht auch fremd ist). Ras­mussen ist fast schon ein Vertreter his­torisch­er Auf­führung­sprax­is, aber nicht in Bezug auf die Per­for­mance, son­dern in Bezug auf die Wirkung.

Es ist ja auch ein ein­er­seits unbe­stre­it­bar­er und ander­er­seits viel zu oft vergessen­er Fakt, dass Kom­pon­is­ten wie Vival­di, Bach oder Beethoven, eigentlich alle, von ihren Zeitgenossen ganz anders gehört wur­den als wir sie heute im his­torischen Rück­blick hören. Wir ken­nen die gigan­tis­chen Klangflächen der Spätro­man­tik, wir ken­nen die musikalis­che Avant­garde des 20. Jahrhun­derts, wir ken­nen elek­tro­n­is­che Musik und sind insofern in viel „abge­härteter“ als das Pub­likum des 18. Jahrhun­derts, für das Vival­di komponierte.

Im Mit­telpunkt von Ras­mussens Pro­jekt ste­ht daher die Frage, ob man die Musikgeschichte seit 1725 irgend­wie für einen Moment „vergessen“ kön­nte, ob man sich in die Zeit zurück­ver­set­zen kön­nte, als die „Vier Jahreszeit­en“ noch kein aus­ge­lutschter Gassen­hauer waren, son­dern eine grund­stürzende Hör­rev­o­lu­tion. Im Beglei­theft zu sein­er CD schreibt er:

I had a wish to hear how Vivaldi’s The Four Sea­sons per­haps would sound like were mod­ern ears to hear them with sim­i­lar amaze­ment as that which Vivaldi’s audi­ence must have felt. Not by chang­ing the com­po­si­tion as such, but sim­ply by stress­ing the aspects in the music which fore­shad­ow the con­cep­tion lat­er peri­ods were to have of rhythm and musi­cal idiom. 
Ich wün­schte mir auszupro­bieren, wie Vivald­is Vier Jahreszeit­en für mod­erne Ohren klin­gen kön­nten, wenn sie die Stücke genau­so begeis­tert hören kön­nten wie Vivald­is Pub­likum. Nicht durch Verän­derun­gen an der Kom­po­si­tion als solch­er, aber durch ein Her­vorheben der musikalis­chen Aspek­te, die spätere Entwick­lun­gen in Rhyth­mus und Iidom vorzeichnen.

In seinen Arrange­ments greift Ras­mussen let­z­tendlich viel weniger stark in die Par­ti­turen ein als Richter. Wo er aber ein­greift, schafft er per­ma­nent Abwe­ichun­gen vom Erwarteten, täuscht unsere Hörge­wohn­heit­en ein ums andere Mal und ver­hin­dert so, dass man sich als Zuhör­er auch nur ein­mal entspan­nt zurück­lehnen kann.

Der dritte Satz des Som­mers, den wir oben in Richters Remix gehört haben, klingt bei Ras­mussen so:

Wo Richter Moder­nität dadurch schafft, dass er Vivald­is Som­mer­sturm in ein head­bang­ing-tauglich­es Vier-Akko­rde-Stück ver­wan­delt, kreiert Ras­mussen ein Sturm­feld, das einen im Jahr 2020 immer noch umfegt und mit immer neuen Kapri­olen akustisch durch die Luft wirft. Hier wird, wenn man denn unbe­d­ingt so will, der Kli­mawan­del hör­bar gemacht. Vival­di klingt mit einem Mal tat­säch­lich so, als hörte man ihn zum ersten Mal.

Über die Notwendigkeit und die Qual­ität der­ar­tiger „Mod­ernisierun­gen“ kann man aus musikalis­ch­er Per­spek­tive tre­f­flich stre­it­en und geteil­ter Mei­n­ung sein. Arrangeure wie Richter oder Ras­mussen beweisen in jedem Fall, dass neue Per­spek­tiv­en auf Alt­bekan­ntes auch in musikalis­ch­er Hin­sicht aufrüt­tel­nd und auf­schlussre­ich sein können. 

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