Mozart remixt Händel

Wei­h­nacht­en naht. Und neben Bachs Wei­h­nachts-Ora­to­ri­um ist wohl der Mes­si­ah von Georg Friedrich Hän­del mit dem welt­berühmten Hal­lelu­ja eines der meis­taufge­führten Stücke dieser Tage:

Halt.

Das soll Hän­del sein? Vielle­icht hören wir lieber das hier:

Das ist Händel! 

Ist das Hän­del? Nein. Beziehungsweise: Eigentlich nicht mehr und nicht weniger als die erste Fas­sung. Das ist Mozarts Remix des Mes­sias aus dem Jahr 1789. Die Ouvertüre, gespielt nach Hän­dels ursprünglich­er Par­ti­tur vom gle­ichen Orch­ester, klingt eigentlich so:

Der Remix, den ich in der heuti­gen Wei­h­nachts­folge mein­er Kolumne vorstelle, ist ein­er der wirk­mächtig­sten in der Geschichte der Musik über­haupt, und zugle­ich ein­er der überraschendsten.

Als Mozart durch einen Fre­und und Barock-Verehrer (was damals in etwa so alt­modisch war wie heute eine Lei­den­schaft für Ton­bän­der) namens Got­tfried van Swi­eten beauf­tragt wurde, den Mes­sias für eine Pri­vatauf­führung in Wien zu remix­en, war er beileibe kein Unbekan­nter. Sein Don Gio­van­ni (übri­gens auch ein Werk mit bemerkenswert­er Remix-His­to­rie) hat­te kurz zuvor in der Wiener Gesellschaft reüssiert, Cosí fan Tutte ent­stand noch im gle­ichen Jahr.

Aber was sollte das ganze? Warum kon­nte man nicht ein­fach Hän­del Hän­del und Mozart Mozart sein lassen? Um diese Frage zu beant­worten, müssen wir zu ein­er kurzen Zeitreise in die Geschichte des Mes­si­ah abtauchen.

Als allererstes stellen wir auf dieser Reise fest: Den defin­i­tiv­en Mes­si­ah gibt es nicht. Hän­del war berühmt und berüchtigt dafür, alle Melo­di­en und Ein­fälle, egal ob eigen­er oder fremder Erfind­ung, für neue Zwecke immer wieder anzu­passen oder zu kopieren. Das war in der Barockzeit gang und gäbe, aber Hän­del war selb­st für dama­lige Ver­hält­nisse ein Remix-Kün­stler ersten Ranges.

Genau­so erg­ing es auch dem Mes­si­ah. Schon für die Dublin­er Urauf­führung im Jahr 1742 arbeit­ete Hän­del die Fas­sung, die er im Som­mer 1741 bin­nen drei Wochen niedergeschrieben hat­te, um – und dies blieb auch in der Folge seine gängige Prax­is. Wenn das Werk unter anderen Bedin­gun­gen oder mit anderen Solistin­nen oder Solis­ten zur Auf­führung kam, wurde flugs eine Arie hinzu- oder umgeschrieben, um das Werk den verän­derten Ver­hält­nis­sen Rech­nung zu tragen. 

Diese Prax­is des kon­stan­ten Remix hörte auch nach Hän­dels Tod nicht auf. Es ist wohl kaum ein Werk in der Musikgeschichte in der­ar­tig ver­schiede­nen Beset­zun­gen zur Auf­führung gekom­men, und all das kann man heute auch in Ein­spielun­gen hören. Von gigan­tis­chen Masse­nauf­führun­gen mit mehreren Tausenden Mitwirk­enden bis zu leicht­füßi­gen Auf­nah­men mit einem Dutzend Sänger reichen die Interpretationsansätze.

Dass heutzu­tage mit der his­torisch informierten Auf­führung­sprax­is wieder ver­sucht wird, zum „ursprünglichen“ Klang der Hän­del-Zeit zurück­zukehren, dass sog­ar der Ver­such unter­nom­men wird, konkrete Auf­führun­gen der 1740er Jahre minu­tiös im Konz­ert­saal zu rekon­stru­ieren, ist also ein Gedanke, der Hän­del selb­st sicher­lich nie gekom­men wäre. Er wäre selb­stver­ständlich davon aus­ge­gan­gen, dass jede Gen­er­a­tion sich das Werk wieder neu aneignet. Nach allem, was wir wis­sen, dür­fen wir davon aus­ge­hen, dass er mit der oben ver­link­ten Disko-Ver­sion seines Hal­lelu­ja wenig Prob­leme gehabt hätte.

Mozarts und van Swi­etens Gedanke, das Werk für diese haus­musikalis­chen Auf­führun­gen kom­plett neu zu schreiben, der uns heute so abson­der­lich erscheint (wen­ngle­ich das Konzept im 21. Jahrhun­dert eine erfreuliche Renais­sance erfahren hat), war für das späte 18. Jahrhun­dert ger­adezu selbstverständlich. 

Für Hiller wie für Mozart war klar, dass der Händel’sche Noten­text den Gegeben­heit­en der neuen Zeit angepasst wer­den musste. Im Orch­ester der Klas­sik kam den Holzbläsern im Ver­gle­ich mit Hän­dels Instru­men­ta­tion eine wichtigere Rolle zu; die Trompe­ten­stim­men hinge­gen hätte man den Trompetern der Klas­sikzeit nicht zumuten kön­nen. So kam es, dass Mozart selb­st das her­rliche Trompe­ten­so­lo der Arie „The trum­pet [sic!] shall sound“ zusam­menkürzen und in die Hörn­er bzw. Klar­inet­ten ver­legen musste.

Weitaus wichtiger als der­lei beset­zung­stech­nis­che Über­legun­gen waren aber Geschmacks­fra­gen. Auf das musikalis­che Pub­likum Ende des 18., das klas­sis­che Opern und Sin­fonien gewohnt war, musste Hän­dels Instru­men­tierung ger­adezu schroff wirken: Arien mit Unisono-Begleitung wie „The peo­ple that walked in dark­ness“ im ersten oder „Thou shalt dash them“ im drit­ten Teil waren Ende des 18. Jahrhun­derts ger­adezu unverständlich.

Mozart milderte diese Schroffheit ab, indem er der Händel’schen Kom­po­si­tion auf kon­ge­niale Weise Bläser­stim­men hinzufügte, um die Orch­ester­tex­tur im Sinne der neuen, klas­sis­chen Hör­erwartun­gen anzure­ich­ern. Diese Maß­nahme lässt ins­beson­dere die genan­nten Arien in völ­lig neuem Licht erscheinen, was den Musikhis­torik­er Jens Peter Larsen zu dem Bon­mot ver­an­lasste, aus Hän­dels „val­ley of the shad­ow of death“ sei ein „well-kept ceme­tery gar­den“ geworden.

Wer die bei­den Fas­sun­gen der betr­e­f­fend­en Arie („The peo­ple that walked in dark­ness“) hört, wird Larsen intu­itiv zus­tim­men: In Mozarts Fas­sung geht in der Tat die unmit­tel­bare Kargheit der Händel’schen Tex­tin­ter­pre­ta­tion ver­loren und weicht einem „gefäl­ligeren“ Klangide­al. Mozart legt an vie­len Stellen ger­adezu karika­tureske Klas­sik-Kaden­zen in die Holzbläs­er, die das Werk wie einen bizarren Anachro­nis­mus klin­gen lassen.

Wer sich aber – und genau das war in der Tat die Herange­hensweise des musik­wis­senschaftlichen Main­streams der let­zten 100 Jahre – auf diesen dis­tin­guierten Stand­punkt zurückzieht, der gle­icht jenen, die naserümpfend behaupten „keine Über­set­zun­gen“ zu lesen. In kurzsichti­gen musikalis­chen Abhand­lun­gen ist Mozarts Mes­sias allzu oft entwed­er von Hän­del-Experten mit Hän­dels Par­ti­tur oder von Mozart-Experten mit anderen Mozartwerken ver­glichen wor­den. Der­ar­tige Ver­gle­iche kön­nen natür­lich nir­gend­wo hinführen.

Erst wenn man diese Sichtweise vom Kopf auf die Füße stellt, ergibt es über­haupt Sinn, sich mit Mozarts Mes­sias zu beschäfti­gen. Man muss Mozarts Noten­text als die einzi­gar­tige Doku­men­ta­tion ein­er Inter­pre­ta­tion ver­ste­hen. Was Mozart hier auf­schrieb, war nicht mehr und nicht weniger als sein eigen­er, klas­sisch bes­timmter Blick auf Hän­dels Werk. Wer seine Par­ti­tur ernst nimmt und sich nicht über sie erhebt, der gewin­nt aus ihr ein­ma­lige Ein­blicke in die Rezep­tion von Hän­dels Musik durch Men­schen, die sein­er Zeit wesentlich näher waren als wir heute.

Mozart ging es mit­nicht­en darum, Hän­dels Musik irgend­wie zu entstellen; vielmehr sorgte er durch minu­tiöse dynamis­che und inter­pre­ta­torische Vor­tragsangaben dafür, den Inter­pre­ten sein­er Zeit, die völ­lig andere Musik gewohnt waren, die Inten­tio­nen Hän­dels zu verdeut­lichen. Jede Änderung, die er in der Par­ti­tur vorgenom­men hat, ist inhaltlich ver­ständlich, wenn man sich den his­torischen Kon­text der Wiener Klas­sik vor Augen führt. Wie der Musik­wis­senschaftler David Schild­kret in seinem akribis­chen Essay On Mozart Con­tem­plat­ing a Work of Han­del dargelegt hat, erfüllen beispiel­sweise auch die zahlre­ichen Umbe­set­zun­gen der Arien (so ver­legt Mozart die furiose Alt-Arie „But who may abide“ in den Bass, das „Rejoice“ aus dem Sopran in den Tenor) den Zweck, einzelne Solistin­nen und Solis­ten stärk­er mit bes­timmten Affek­ten der Musik zu iden­ti­fizieren und eine aus sein­er Sicht aus­ge­wo­genere und logis­chere Verteilung der einzel­nen Teile zu erreichen.

Was wir lesen und dur­chaus auch hören kön­nen, wenn wir Mozarts Mes­sias ernst nehmen, ist also ger­adezu ein Ersatz für die 1789 lei­der noch nicht erfun­de­nen Tonaufze­ich­nun­gen – die kün­st­lerische Inter­pre­ta­tion eines Meis­ters, den wir son­st nur als Kom­pon­is­ten kennen.

Vor diesem Hin­ter­grund ist es nur als kurios zu beze­ich­nen, dass aus­gerech­net Mozarts Arrange­ment, das für eine ganz bes­timmte Auf­führung an einem ganz bes­timmten Ort mit ein­er ganz bes­timmten Beset­zung konzip­iert war, 1803 gedruckt wurde.

Diese Aus­gabe blieb, auch dank der deutschen Über­set­zung der Texte von Friedrich Got­tlieb Klop­stock und Christoph Daniel Ebe­lin, während des gesamten 19. Jahrhun­derts bes­tim­mend für die Mes­sias-Rezep­tion in Deutsch­land. Lei­der brachte ihr Her­aus­ge­ber nur wenig Ver­ständ­nis für die Beson­der­heit der mozartschen Par­ti­tur auf und pfuschte wiederum an dessen kün­st­lerischen Entschei­dun­gen herum. Diese mediokre Aus­gabe ver­hin­derte daher lange Zeit eine echte Auseinan­der­set­zung mit dem dop­pel­bödi­gen Remix-Charak­ter dieses Werkes.

Auf die erste kor­rek­te, kri­tis­che Aus­gabe des Mozart-Mes­sias musste die Welt bis 1961 warten. Deren Her­aus­ge­ber Andreas Holschnei­der ver­stand aber mehr von der Sache und brachte die Her­aus­forderung dieser Par­ti­tur wie fol­gt auf den Punkt:

Wir sind gewohnt, Mozart als Kom­pon­is­ten zu sehen; die Bear­beitun­gen zeigen uns Mozart von neuer, bish­er wenig bekan­nter Seite; sie gehört aber dur­chaus zum Gesamt­bild seines Kün­stler­tumes. Denn die Fähigkeit­en des Pro­duzierens und Repro­duzierens waren damals nicht Aus­sage­for­men ver­schieden­er Musik­er, wie wir als Erben des späten 19. Jahrhun­derts glauben mögen. Vielmehr mußte sich der Kün­stler nach altem Brauch als Kom­pon­ist und Inter­pret in gle­ichem Maße bewähren.

Holschnei­der, S. IX

Aus diesem Grund ist es äußerst ver­wun­der­lich, dass manche der­er, die Mozarts Mes­sias-Fas­sung aufge­führt haben, zwar seinem Noten­text fol­gten, aber darüber wiederum eine (neo-)barocke Tonge­bung und Inter­pre­ta­tion legten, also gewis­ser­maßen einen Hän­del-Mozart-Hän­del-Sand­wich zu kreieren ver­sucht­en. Daraus kann nichts wer­den: Wer Hän­del spie­len will, kann gle­ich zu dessen wun­der­bar­er Par­ti­tur greifen und braucht nicht mit Mozart anz­u­fan­gen. Wer Mozart auf­führt, der musiziere auch Mozart (die oben ver­link­te Auf­nahme mit der Han­nover­schen Hofkapelle unter Jür­gen Bud­day ist insofern mustergültig).

In gewis­sem Sinne ist Mozarts rabi­ater Umgang mit Hän­dels Vor­lage in gewis­sem Sinne ehrlich­er als unser heutige, ehrlich­er sog­ar als die soge­nan­nte „His­torische Auf­führung­sprax­is“, die ober­stre­ber­haft das Rad der Zeit per­fekt zurück­zu­drehen ver­sucht. Denn Interpret*innen im Jahr 2019 leg­en die zeit­genös­sis­chen Vorurteile ihrer Inter­pre­ta­tio­nen beileibe nicht immer so offen wie Mozart 1789 in sein­er Mes­sias-Par­ti­tur.

In diesem Sinne soll­ten wir im Sinne Mozarts auch heute mehr inter­pre­ta­torischen Mut beweisen. Manch ein­er hat es getan, zum Beispiel der englis­che Kom­pon­ist Eugene Goossens mit seinem spätro­man­tis­chen Remix des Mes­si­ah. Ich bin ges­pan­nt auf weit­ere Remixe.

Lit­er­atur
Andreas Holschnei­der: Vor­wort zur kri­tis­chen Aus­gabe. Kas­sel 1961. https://dme.mozarteum.at/DME/nma/nma_cont.php?vsep=206&gen=edition&l=1&p1=-19
David Schild­kret: On Mozart Con­tem­plat­ing a Work of Han­del: Mozart’s arrange­ment of Mes­si­ah. In: Thomas J. Math­iesen (Hrsg.): Fes­ta Musi­co­log­i­ca: Essays in Hon­or of George J. Buelow. Stuyvesant 1995. S. 129–146.

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