Im Jahr 1790 erhielt der Komponist Joseph Haydn ein verlockendes Angebot: Auf Einladung des Musikunternehmers Johann Peter Salomon sollte er nach London reisen, um dort einige Konzerte zu geben. No big deal, hätte ein heutiger Joseph Haydn sich wohl gesagt und den nächsten Billigflieger bestiegen. Nicht so jedoch der historische Haydn: Zum einen reichte sein Englisch für einen solchen Anglizismus gar nicht aus. Und zum anderen war London mit seiner von freien Orchestern, Verlegern und Unternehmern bestimmten Musikszene genau der richtige Ort für Big Deals.
Solche Deals mögen auch Haydn vor Augen gestanden haben, der sich nach dem Tod seines Dienstherren Nikolaus I. im Alter von 58 Jahren plötzlich als arbeitsloser Musiker in Wien wiederfand (wenn auch mit üppiger Pension ausgestattet). Die Bedingungen für ein solches Sabbatical im Ausland hätten also nicht besser sein können. Ein Big Deal war der Plan einer Londonreise aber dennoch: Ein solcher Trip bedeutete im achtzehnten Jahrhundert jede Menge Strapazen für den nicht mehr ganz jungen Komponisten, und auch seine Englischkenntnisse ließen zu wünschen übrig.
Haydns Freunde in Wien waren jedenfalls nicht gerade begeistert, insbesondere ein gewisser Wolfgang Amadeus Mozart, den Haydns Biograf Albert Christoph Dies mit der Warnung zitiert: „Papa! […] Sie haben keine Erziehung für die große Welt gehabt, und reden zu wenige Sprachen.“ Haydns Replik kam prompt: „O! […] Meine Sprache verstehet man durch die ganze Welt.“
Seitdem ich begonnen habe, mir über das Thema „musikalische Übersetzungen“ Gedanken zu machen, stolpere ich immer wieder über dieses Bonmot. Schließlich scheint es den Beweis zu liefern, dass Musik als universell zugängliche Kunstform die Fesseln unserer Sprache zu sprengen und letztendlich, um es mit Schiller/Beethoven zu sagen, alle Menschen zu verbrüdern vermag.
Warum also sollte so etwas wie „musikalische Übersetzung“ überhaupt notwendig sein, wenn die Sprache der Musik doch nach Papa Haydn „durch die ganze Welt“ verstanden wird?
Fest steht: Komponistinnen und Komponisten haben schon immer übersetzt. Sie haben fremde und eigene Musik immerfort geremixt – also arrangiert, umkomponiert, variiert, zusammengestellt, zitiert, dem Geschmack ihrer Zeit oder ihrer musikalischen Kultur angepasst oder auch schlicht plagiiert. Es gibt zwischen Geminiani und Gubaidulina eine schier unerschöpfliche Fülle musikalischer Werke mit doppelter Urheberschaft.
Die Geschichte dieser Bearbeitungen und Übertragungen ist, obgleich so alt wie die Geschichte der europäischen Musikkultur, erstaunlich schlecht dokumentiert. Die einzige Veröffentlichung, die ich trotz intensiver Suche zu diesem Thema habe finden können, ist ein eher oberflächlicher Materialband für den Musikunterricht in der Oberstufe.
Dabei ist es bei näherem Hinsehen gar nicht erstaunlich, dass Musik im Laufe der Zeit immer wieder neu interpretiert wird – schließlich lebt sie davon. Jedes Orchester, jede Pianistin, jeder Sänger, der eine Bühne betritt, liefert eine eigene, neue Interpretation des Notentextes. Vielleicht hat Haydns spontaner Ausruf auf die Musikgelehrten der letzten zweihundert Jahre eine größere Wirkung entfaltet, als dieser selbst ihm jemals beigemessen hatte.
Denn der Fortgang seiner Englandreise gab seiner Prognose, kraft seiner Musik „durch die ganze Welt“ verstanden zu werden, nur zum Teil recht. Die Konzerte, die Joseph Haydn nach seiner Ankunft in London im Januar 1791 gab, wurden zwar gefeiert. Der Komponist aus Österreich geriet seit dem Tag, da er, „die unendlich grosse stadt london“, wie er in einem Brief schrieb, betreten hatte, zur Attraktion im Musikleben der Stadt:
meine anckunft verursachte grosses aufsehen durch die ganze stadt durch 3 Tag wurd ich in allen zeitungen herumgetragen: jederman ist begierig mich zu kennen, ich muste schon 6 mahl ausspeisen, und könte wenn ich wolte täglich eingeladen seyn
Haydn an Marianne von Genzinger, 8. Januar 1791
Dem Komponisten wurde aber auch schnell klar, dass die Londoner Orchester ebenso wie die Londoner Zuschauer musikalisch anderes gewöhnt waren und auch anderes erwarteten als das fürstliche Publikum, für das er bisher komponiert hatte. Und so arbeitete er nicht wenige der schon vor der Reise entstandenen Symphoniesätze für die Londoner Aufführungen noch einmal um und wurde so gewissermaßen zu seinem eigenen Dolmetscher.
Das berühmteste Beispiel (unter vielen!) dürfte hierfür seine allseits bekannte „Symphonie mit dem Paukenschlag“ Nr. 94 sein: Den titelgebenden Fortissimo-Schlag im langsamen zweiten Satz fügte Haydn der Legende nach aus Ärger über das unaufmerksame Londoner Publikum nachträglich hinzu – eine Maßnahme freilich, die seinen Ruhm nicht schmälern sondern im Gegenteil nur weiter zu steigern vermochte.
Unter den zahlreichen Bewunderern Haydns in London war auch ein Musikverleger namens William Napier, der sich vor allem mit Hausmusikfassungen schottischer Volkslieder durchzuschlagen versuchte. Im Alter von 25 Jahren war er von Edinburgh nach London gekommen, um in der Privatkapelle des Königs zu spielen, war dann aber von einer Gichterkrankung jäh von der Karriereleiter gekippt worden und versuchte seitdem – mehr schlecht als recht – als Verleger sein Glück.
Anfang 1791, als Joseph Haydn britischen Boden betrat, war von Glück allerdings keine Rede mehr: Eine im Vorjahr erschienene, aufwendige Ausgabe von Volksliedbearbeitungen schottischer Lieder („A Selection of Original Scots Songs in Three Parts“) für die Hausmusik hatte Napier zwar einige Aufmerksamkeit, aber zugleich horrende Kosten beschert. Nun stand ihm und seiner angeblich vierzehnköpfigen Familie das Wasser bis zum Hals: In der Zeitung „Morning Chronicle“ wurde seine Insolvenz bereits verkündet, nur ein Wunder konnte ihn retten.
Die Rettung kam in Person des berühmten Komponisten Haydn, der von Napiers misslicher Situation Wind bekam und ihm nach dem Vorbild des ersten Bandes seiner „Scots Songs“ eine ganze Reihe von weiteren Arrangements schottischer Volksweisen zur Veröffentlichung schenkte.
Die Paarung war recht ungleich – hier der weitgehend unbekannte und erfolglose Verleger, dort der weltberühmte Komponist. In die heutige Zeit übertragen, darf man sich Haydns Geste ungefähr so vorstellen, als produziere Britney Spears für eine strauchelnde Influencerin ein paar exklusive Instagram-Storys. Warum? Mitleid mit dem (flüchtig) Bekannten dürfte einer der Gründe sein. Der erste moderne Herausgeber der Lieder Karl Geiringer geht aber noch weiter:
Wahrscheinlich hat Haydn, der von Kindheit an den Reiz volkstümlicher Melodien kennengelernt hatte, die Originalität und Frische der schottischen Melodien so stark empfunden, daß ihm die Aufgabe, sich mit ihnen künstlerisch auseinanderzusetzen, verlockend erschienen ist. […] Jedenfalls hat die Kombination von origineller, bodenständiger Volkskunst und Haydnschem Kammerstil zu einem höchst reizvollen Resultat geführt.
Karl Geiringer: Vorwort, in: Haydn-Werke, Bd. 32/1. München 1961
Was auch immer die Beweggründe des Komponisten gewesen sein mögen – das haydnbegeisterte Publikum nahm die Stücke des Meisters, die es anders als die großen Symphonien zu Hause nachspielen konnte und deren Melodien ihm oft bekannt waren, begeistert auf, und die Insolvenz des Verlegers Napier konnte abgewendet werden.
Und so kommt es, dass wir auch die heute wohl bekannteste britische (in diesem Fall: englische) Weise überhaupt in einer Bearbeitung von Joseph Haydn besitzen, die seit der Ersteinspielung mit Jamie MacDougall und dem Haydn Trio Eisenstadt aus dem Jahr 1995 auch hörbar ist:
Die Symbiose des ursprünglich wehklagenden Volksliedes mit Haydns unverwechselbarer, tief verwurzelter Heiterkeit kennen zu lernen, kam zumindest für mich so überraschend, dass ich Greensleeves hernach nicht mehr mit anderen Ohren hören konnte. Vielleicht war nur der Ausländer Haydn, der den Text des Liedes beim Hören höchstwahrscheinlich gar nicht kannte, in der Lage, das Tänzerische des Sechsachteltaktes des Liedes auf diese Weise aufzugreifen.
Der immense Erfolg, den Napiers zwei Haydn-Bände in den Folgejahren erlebten, führte dazu, dass bei Haydns zweiter England-Reise 1795/96 gleich zwei weitere Verleger Lied-Arrangements bei ihm bestellten. Und so kommt es, dass Haydn sich ein zweites Mal an Greensleeves machte und ein Arrangement schrieb, das in mancher Hinsicht noch über das erste aus dem Jahr 1791 hinausgeht.
Nicht nur verfügt die zweite Fassung über eine auskomponierte Instrumentaleinleitung, die verwirrenderweise symphony genannt wird. Auch der Geigenpart ist hier noch um einiges lebhafter, ja virtuoser gestaltet:
Meine Ohren, die eher sentimentalere, Vaughan-Williams-hafte Interpretationen von Greensleeves gewohnt waren, haben Haydns lebhafte Liedbearbeitungen diesen Klassiker ganz neu hören gelehrt. Und zugleich beeindruckt mich, dass Haydns Geist in diesen Volksliedsätzen ganz unverkennbar zum Ausdruck kommt, obwohl er sich aufgrund der ökonomischen Gegebenheiten fremder Themen und Formen bedienen musste.
Diese Beispiele belegen mustergültig die Macht der musikalischen wie der literarischen Übersetzung: Auch wenn man die Sprache der Musik vielleicht „durch die ganze Welt“ hören und verstehen kann, können musikalische Übersetzerinnen und Übersetzer uns ein Werk, das wir wie einen Freund zu kennen glauben, von einer Seite zeigen, von der wir sonst wohl nie erfahren hätten.
Literatur und Links
Andreas Friesenhagen über Haydns schottische und walisische Volksliedbearbeitungen: https://www.triovanbeethoven.at/Programme/Volksliedbearbeitungen-von-Haydn-und-Beethoven/Volksliedbearbeitungen-von-Haydn
Die Noten zur Musik: http://ks.imslp.net/files/imglnks/usimg/0/07/IMSLP468737-PMLP761138-selectionoforigi00hayd_scottish_vol3.pdf
Haydns Londoner Notizbuch: https://archive.org/details/JosephHaydnGesammelteBriefeUndAufzeichnungen/page/n477
Die klassische Haydn-Biografie von Albert Christoph Dies: https://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs3/object/display/bsb10600111_00001.html