Die Corona-Pandemie ist nicht gerade die große Stunde Gustav Mahlers. Seine gigantomanischen Symphonien mit manchmal bis zu Tausend Mitwirkenden sind mit den Abstands- und Hygienebedingungen dieser Tage nicht gerade einfach in Einklang zu bringen. Dafür steht Mahler jedoch in anderer Form im öffentlichen Interesse: Ein Roman über ihn hat sich nämlich auf die Spiegel-Bestsellerliste verlaufen und diese seit Wochen nicht verlassen.
Der österreichische Schriftsteller Robert Seethaler versucht in seinem gerade einmal 126 großzügig gesetzte Seiten langen Roman Der letzte Satz eine Art literarischen Remix über den letzten Satz aus Mahlers Neunter Symphonie, er scheitert jedoch krachend. Glauben Sie mir, sein Text ist aufgesetzt, blasiert und öde, und keiner dieser drei Sünden hat sich Mahler je auch nur mit einer Note schuldig gemacht. Wenn Der letzte Satz überhaupt zu etwas gut ist, dann zu dem Beweis, dass man als sogenannter Bestsellerautor auch ohne jeglichen literarischen oder intellektuellen Ehrgeiz neue Produkte kreieren kann, die dann auch noch gekauft werden. Lesen Sie dieses Buch nicht, vergeuden Sie nicht Ihre Lebenszeit.
Wenn Ihnen in diesem Monat der Sinn nach einem novemberlichen, elegischen Mahler-Remix haben, dann hören Sie lieber das hier:
Als ich selbst zum ersten Mal das Glück hatte, Ich bin der Welt abhanden gekommen singen und zur Aufführung bringen zu dürfen, war mir unbegreiflich, wie derart zauberhafte, entrückte Musik das Produkt einer Bearbeitung, also nur, wie ich damals dachte, einer Schöpfung zweiter Ordnung, sein konnte. Der Bearbeitung eines Werkes zudem, dessen Originalfassung von Gustav Mahler nie die gleiche Wirkung auf mich entfaltet hat.
Eine Antwort auf diese Frage, eine endgültige zumindest, habe ich bis heute nicht.
Der seit den Achtzigerjahren äußerst rührige Arrangeur Clytus Gottwald führt die spätromantische Musik seiner Vorbilder, in diesem Fall, ein Lied für Altstimme und Orchester, einer Form zu, die fast wie ihre musikalische Vollendung klingt. Insofern ist er wohl der vollkommenste Musikbearbeiter, den es je gegeben hat. Seine Transkriptionen gleichen in mehrfacher Hinsicht perfekten Übersetzungen.
Zunächst einmal sind Gottwalds Arrangements, auch in den Fällen, in denen ihnen gar kein Vokalwerk zugrundeliegt, per se gut singbare Chorstücke. Sie sind zwar schwierig – viele von ihnen sind im Grunde nur Profichören zugänglich –, aber nicht in der Art eines Stümpers, der zu originaltreu vorgeht und darüber vergisst, für wen er arrangiert. Gottwalds Arrangements sind so schwierig wie die Musik, die er arrangiert – aber zugleich sind sie oft fast schon unheimlich gesanglich, und zwar im Grunde in allen der (oft sechzehn) Chorstimmen. Alles in ihnen fließt, und wenn man als Sänger das Dickicht der spätharmonischen Romantik erst einmal durchdrungen hat, fühlt sich Gottwalds Musik oft genug so an, als müsse man nur den Mund öffnen und sich einschwingen in ihren großen Weltenklang.
Diese besondere Qualität von Gottwalds Bearbeitungen hat sicherlich auch zu ihrer erstaunlichen Beliebtheit beigetragen. Ihr liegt einerseits eine reiche Praxis-Erfahrung mit der chormusikalischen Tradition zugrunde, denn Gottwald leitete schon fünfundzwanzig Jahre lang die Schola Cantorum, eines der renommiertesten Vokalensembles der Republik, als er sich dem Arrangieren zuwandte. Andererseits zeugen Gottwalds Partituren auch von einer fundierten Beschäftigung mit den satztechnischen Herausforderungen des Chorgesangs. Im Beiheft zu einer CD schreibt Gottwald selbst:
Bei meinen Studien zur altniederländischen Musik lernte ich, mit welcher Satztechnik Ockeghem, Josquin und die anderen Komponisten jener Zeit diesem Mangel [der Obertonarmut der menschlichen Stimme] abzuhelfen trachteten: eine oder zwei Knaben-Oberstimmen und ein dicht geschichteter Männerstimmensatz. Dieses Prinzip habe ich aufgegriffen und weiter entwickelt. […] Gelegentlich benutze ich in den Bässen den Quartsextakkord an Stelle des Grundakkords, weil ein Grundton in der Kontraoktave selbst für tiefe Bässe nur eingeschränkt erreichbar ist. Beim substitutiven Gebrauch des Quartsextakkords wurde der fehlende Grundton als Kombinationston […] hörbar und erweckte den akustischen Eindruck eines Akkords in der Grundlage.
Trotz dieser weitreichenden Überlegungen zum Endprodukt, dem Chorwerk, entfernt sich Gottwald in seinen Bearbeitungen selten weit von den Orchesterpartituren seiner Vorbilder. Er ist eigentlich überhaupt kein Remix-Künstler, der seine Vorlagen zertrümmert, um aus ihren Einzelteilen etwas Neues zusammenzusetzen. Vielmehr gleicht er auch in dieser Hinsicht dem Meisterübersetzer, der ein neues literarisches Werk erschafft, ohne seiner Vorlage untreu zu werden.
Seine Chorfassung von Ich bin der Welt abhanden gekommen enthält beispielsweise fast keine Töne, die bei Mahler nicht in der Partitur stehen. Selbstverständlich schichtet Gottwald um, oktaviert oder doppelt Stellen, die im Gefüge eines Chores anders klingen müssen als in dem eines Orchesters. Er lässt sogar manche Noten weg, wie in diesem Fall manche Arpeggien der Harfe, die den geanglichen Fluss der Musik nur stören würden. Man könnte auch sagen, er re-instrumentiert die Musik. Er verändert bei alldem aber weder ihre melodische noch ihre harmonische Struktur.
Auf diese Weise löst Clytus Gottwald in einer stupenden Perfektion ein, was er selbst als sein Lebensprojekt definiert hat:
In dem […] Zeitraum 1880–1920 waren die Beziehungen zwischen der Instrumentalmusik und der Chormusik, und hier insbesondere mit der A‑cappella-Musik, merklich abgekühlt, wenn nicht abgebrochen. […] Deshalb lag es nahe, nach Abklingen der experimentellen Phase der neuen Musik […] diesen Hiatus zwischen Spätromantik und Chormusik wieder, wenn auch durch Transkriptionen, zu schließen, um die musikalischen Erfahrungen nachzuholen, von denen sich die A‑cappella-Musik verabschiedet hatte.
Als Ein-Mann-Lückenfüller der Musikgeschichte hat der inzwischen 95-jährige Clytus Gottwald den Chören der Welt im Alleingang ein Repertoire beschert, das ihnen andernfalls fast vollständig verschlossen geblieben wäre. Seine Remixes, so viel steht fest, werden der Welt so schnell nicht abhanden kommen.
Literatur
Clytus Gottwald: Rückblick auf den Fortschritt. Eine Autobiographie. Carus Verlag, Stuttgart 2009.

Felix Pütter ist Softwareentwickler für das Notensatzprogramm FORTE. Nebenbei schreibt er für TraLaLit und ist begeisterter Musiker. Für verschiedene Ensembles hat er auch schon selbst Musik arrangiert – zum Beispiel Opernarien für Chor, Volkslieder für Streichensembles und einen Heavy-Metal-Song für Sinfonieorchester.