Als im Oktober 2019 meine erste Kolumne bei TraLaLit erschien, war noch nicht abzusehen, dass das Jahr 2020 von einer globalen Pandemie geprägt sein würde, die in rasender Geschwindigkeit auch das weltweite Konzertgeschehen auf den Kopf stellen würde.
Für Fans der musikalischen Übersetzung war dieses ein faszinierendes Jahr voller ungewohnter Hörerlebnisse. Angefangen bei der extrem reduzierten und verdichteten Fassung der Matthäuspassion im April, habe ich diese Entwicklung über das Jahr hinweg auch mit meiner Kolumne begleitet.
Jetzt, wenige Tage nachdem Großbritannien als erstes Land der westlichen Welt einen Corona-Impfstoff zugelassen und damit den Anfang vom Ende der Pandemie eingeläutet hat, endet meine Kolumne. Wir sind aber, in Deutschland wie in den meisten anderen Staaten der Welt, noch fest im Griff des Virus – diese gesamte Adventszeit müssen wir auf Konzerte jeglicher Art verzichten.
Das bedeutet auch die erste Adventszeit seit wahrscheinlich hundert Jahren ohne Bachs Weihnachtsoratorium, das für viele Musikerinnen und Musiker zu Weihnachten gehört wie für andere Glühwein und Weihnachtsbaum. Oder?
Vielleicht nicht zwangsläufig.
In ein Konzert gehen wird man in diesem Jahr nicht mehr können, im Chor singen oder im Orchester spielen ebenfalls nicht. Doch vielleicht ist ein Weihnachtsfest im Familienkreis schon mehr als genug, um ein Weihnachtsoratorium der anderen Art zu Hause zur Aufführung bringen zu können.
Das Hamburger „Ensemble Resonanz“ ist eigentlich als Klangkörper viel zu klein, um Bachs Riesenwerk auf die Bühne bringen zu können. Das hielt die zwölf Instrumentalistinnen und Instrumentalisten im Jahr 2017 jedoch nicht davon ab, eine Fassung von Bachs Weihnachtsoratorium einzuspielen, die sie als „urbane Hausmusik“ bezeichneten. Ihre Auswahl von ungefähr der Hälfte des gesamten Oratoriums nahmen sie in ihrer für normale Verhältnisse winzig anmutenden Besetzung mit nur vier Sängern auf – eine Besetzung freilich, die im Advent 2020 noch immer das Ordnungsamt auf den Plan riefe.
Die Fassung des „ensemble resonanz“ lebt von der ungebändigten Lust auf Bachs Musik, wie sie in Reinform in der Tenorarie „Ich will nur dir zu Ehren leben“ aus der vierten Kantate zum Ausdruck kommt. Wer würde dem Solisten Benjamin Glaubitz die frohe Botschaft seiner Arie hier nicht abnehmen?
Die Musikerinnen und Musiker des Ensemble Resonanz sind klassisch ausgebildete Profis, die sich von ihrer professionellen Ausbilldung jedoch nicht die Neugier auf neue, moderne Klangwelten nehmen lassen. Ihrer Aufnahme ist daher, bei aller Modernität des Klangbilds, die intime Kenntnis der Bach’schen Musik bei jeder Note anzumerken. Das macht – neben den überraschenden E‑Gitarren- und Keyboard-Effekten – den unwiderstehlichen Drive dieses Remix aus.
Doch wenn man das Weihnachtsoratorium mit sechzehn Menschen zur Aufführung bringen kann, warum dann nicht auch mit den zehn, die zu Weihnachten in den meisten Bundesländern zusammenkommen dürfen? Oder zu fünft mit den Geschwistern, Mama und Papa? Mit den Instrumenten, mit den Stimmen, die eben an Heiligabend zur Verfügung stehen?
Aufnahmen wie die des Ensemble Resonanz sind für dieses außergewöhnliche Weihnachtsfest so wertvoll wie noch nie, weil sie dazu einladen, sich die großen Werke selbst zu Hause zu eigen zu machen, selbst aktiv zu werden.
Das ist die Frohe Botschaft des Remix: Die Musik gehört uns allen! Die großen Aufführungen mit hundert Teilnehmern finden nächstes Jahr hoffentlich wieder statt – in diesem Jahr sind wir selbst dran, die Werke, die wir so lieben, bei uns zu Hause erklingen zu lassen.

Felix Pütter ist Softwareentwickler für das Notensatzprogramm FORTE. Nebenbei schreibt er für TraLaLit und ist begeisterter Musiker. Für verschiedene Ensembles hat er auch schon selbst Musik arrangiert – zum Beispiel Opernarien für Chor, Volkslieder für Streichensembles und einen Heavy-Metal-Song für Sinfonieorchester.